15. Feruar 2023  Dr. Irina Sens hat viele Hüte auf: Sie ist stellvertretende Direktorin und leitet den Bibliotheksbetrieb der Technischen Informationsbibliothek Hannover (TIB) – Leibniz-Informationszentrum Technik und Naturwissenschaften und Universitätsbibliothek.

Als Mitglied der DEAL-Gruppe bringt sie damit sowohl die Perspektive einer zentralen Fachbibliothek als auch die einer führenden Technischen Universität ein. Warum ihr DEAL am Herzen liegt, erläutert sie im folgenden Interview.

 

Irina Sens thumbnailIrina SensLiebe Frau Sens, das Profil der TIB Hannover ist überschrieben mit der Aussage „Mehr als eine Bibliothek“. Was genau meint dieses „Mehr“?

Eine gute Frage, denn eine gute Bibliothek zu sein, ist heute ja schon eine große Aufgabe, wenn ich an die Herausforderungen von Open Science und Themen wie der Nationalen Forschungsdateninfrastruktur denke. Das „Mehr“ bezieht sich auf das effiziente Zusammenspiel von Forschungsaktivitäten und Bibliotheksbetrieb.  Unser Kernauftrag ist die überregionale Literatur- und Informationsversorgung in unseren Fächern – dazu kommen Forschungs- und Entwicklungsprojekte im Bereich der Informationswissenschaften zur Weiterentwicklung unserer Dienstleistungen in der Literatur- und Informationsversorgung durchführen- so steht es auch im Gesetz zur TIB. 2015 haben wir die erste Professur gemeinsam mit Leibniz-Universität Hannover eingerichtet im Kontext „Visual Analytics“, inzwischen ist die 5. Professur ausgeschrieben. Seit 2017 wird die TIB von Prof. Auer geleitet, Informatikprofessor mit dem Schwerpunkt „Data Science und Digital Libraries“.  Und ganz einfach zusammengefasst heißt das:  Die TIB verfolgt das Ziel, ihre Rolle als deutsches Informationszentrum für die Digitalisierung von Wissenschaft und Forschung auszubauen.  Dazu gehören auch Wissens- und Technologie-Transfer, so dass andere Einrichtungen diese Weiterentwicklungen nutzen können.

Was sind Ihre Aufgaben an der TIB?

Ich leite den Bibliotheksbetrieb der TIB, das umfasst alle bibliothekarischen Bereiche, dazu gehört auch der Betrieb der Universitätsbibliothek der Leibniz Universität. Sehr reizvoll übrigens dieses Zusammenspiel zwischen den überregionalen Aufgaben als Zentrale Fachbibliothek und den Aufgaben der Universitätsbibliothek – wir haben mit der Universität ja die Communities direkt vor Ort, zum Testen und Evaluieren auch unserer überregionalen Dienstleistungen.  Mein persönlicher Arbeitsschwerpunkt liegt im Bereich des Medien- und Lizenzmanagements verbunden mit der digitalen Langzeitarchivierung und Forschungsdaten. Stellvertretende Direktorin bin ich dann auch noch.

Sie sind außerdem Mitglied der DEAL-Gruppe: wie kam es dazu, und welche Rolle haben Sie in diesem Zusammenhang?

Die TIB ist Mitglied der Leibniz-Gemeinschaft, die ja eine der Allianz-Organisationen ist. Die Allianz hat das DEAL-Projekt ins Leben gerufen. Die Leibniz-Gemeinschaft ist im Unterschied zur Max-Planck-Gesellschaft dezentral organisiert. Daher wurde die TIB resp. ihr damaliger Direktor – seitens der Leibniz-Gemeinschaft in den Projektlenkungsausschuss entsendet. Das habe ich dann übernommen. Als die DEAL-Gruppe neu zusammengesetzt wurde oder besser erweitert wurde, bin ich gefragt worden, ob ich das für die Leibniz-Gemeinschaft wieder machen würde – was ich übrigens sehr gerne zugesagt habe. Die Leibniz-Gemeinschaft besteht aus fast 100 Instituten aus allen Wissenschaftsgebieten.  Und das beschreibt ganz gut meine Rolle: ich vertrete die Interessen der Leibniz-Institute, die mit ihren Interessen gegenüber den großen Einrichtungen nicht „untergehen dürfen“.  Oft wird ja von den publikationsstarken Einrichtungen geredet und man verbindet damit die großen Universitäten, die sehr viel publizieren. Die forschungsstarken Leibniz-Institute sind im Verhältnis zur Anzahl ihrer Wissenschaftler:innen und ihrer Etats aber genauso publikationsstark und müssen die gleichen Herausforderungen in der Open-Access-Transformation stemmen, wie die Universitäten. Es gibt aber auch noch eine wissenschaftliche Vertretung der Leibniz-Gemeinschaft in der DEAL-Gruppe. Da können wir uns da gut ergänzen.  Für mich war es daher besonders wichtig, in der DEAL-Untergruppe Teilnahmevertrag und Kostenmodellierung mitzuarbeiten.

Aber ich habe noch andere Hüte auf – wir sind auch Universitätsbibliothek und die Leibniz Universität Hannover ist eine der TU9- Universitäten. Die TU9 und die U15 werden ja ganz oft im Zusammenhang mit finanziellen Herausforderungen bei den DEAL-Verträgen genannt, weil sie sehr viel publizieren.  Dann habe ich natürlich noch den TIB-Hut auf, denn die Open Access-Transformation hat großen Einfluss auf die Aufgaben der TIB.

Die TIB ist ja auch zusammen mit zentralen Allianz-Organisationen und dem GeoForschungsZentrum Potsdam beteiligt an der MPDL Services gGmbH. Können Sie uns etwas mehr über die Gründe der TIB erzählen, sich zu beteiligen?

Hier lohnt es sich sicherlich, ein bisschen zurückzuschauen. Der erste DEAL-Vertrag mit Wiley konnte nur unterschrieben und wirksam werden, weil die Max-Planck-Gesellschaft dazu bereit war und auch die passende Organisationsform, nämlich die MPDLS GmbH (Max-Planck-Digital Library Services GmbH) zur Verfügung stand und wir können nur froh sein, dass das alles so gut geklappt hat. Da will ich hier ausdrücklich der MPDL und der Max-Planck-Gesellschaft meinen Dank für aussprechen.  Aber natürlich konnte und sollte die Max-Planck-Gesellschaft das auf Dauer nicht alleine stemmen, deshalb hat die Gemeinsame Wissenschaftskonferenz beschlossen, dass eine nachhaltige und tragfähige Struktur geschaffen wird unter Beteiligung aller Wissenschaftsorganisationen. Und ja, die TIB ist keine Wissenschaftsorganisation, aber hier kommt nun - vergleichbar mit der Helmholtz-Gemeinschaft  - deshalb auch die Beteiligung des Geoforschungszentrums Potsdam - die Dezentralität der Leibniz-Gemeinschaft ins Spiel. Die Beteiligung an einer nunmehr gemeinnützigen GmbH setzt ja auch eine finanzielle Beteiligung voraus. Die Leitung der Leibniz-Gemeinschaft und die TIB sind daher sehr frühzeitig ins Gespräch gegangen, wie dieses gelöst werden kann – die TIB in enger Rückkopplung mit dem Wissenschaftsministerium in Niedersachsen und ihrem Stiftungsrat. Und so haben wir das gemeinsam gestemmt und wir sind auch ein bisschen stolz, jetzt mit den Allianz-Wissenschaftsorganisationen Gesellschafterin zu sein, wobei wir die kleinste Gesellschafterin sind.  Die beiden größten sind die DFG und die MPG und die DFG hat derzeit auch den Vorsitz in der Gesellschaft.  Es hört sich jetzt fast ein bisschen so an, als wären es nur formale Gründe – nein für uns ist es vor allem wichtig auf allen Ebenen an dem Gesamtsystem „Open-Access-Transformation“ beteiligt zu sein. Wir möchten das mitgestalten, es hat ja große Auswirkungen auf den TIB-Auftrag der überregionalen Literatur- und Informationsversorgung für alle Gebiete der Technik und deren Grundlagenwissenschaften. Damit wir auch zukünftig unseren Auftrag in vollem Umfang erfüllen können, haben unsere Gremien (wissenschaftlicher Beirat und Stiftungsrat) uns beauftragt, die Open Access Transformation aktiv mit voranzutreiben und dabei ist die Beteiligung an der Gesellschaft ein wichtiger Baustein.

Infrastruktureinrichtungen wie die TIB Hannover haben in der Regel keinen oder nur wenig wissenschaftlichen Output in Form von Publikationen - warum sollten sie sich aus Ihrer Sicht trotzdem dafür einsetzen, dass sich das Prinzip Open Access durchsetzt im Publikationssystem, oder haben sie vielleicht sogar eine besondere Verantwortung?

Das habe ich aus wissenschaftspolitscher Sicht eben schon mit beantwortet, aber hier noch mal konkreter. Der satzungsgemäße Auftrag der TIB ist die „überregionale Literatur- und Informationsversorgung für alle Gebiete der Technik und ihrer Grundlagenwissenschaften“. Diesen Auftrag hat die TIB bisher vor allem durch den Erwerb, die Lizenzierung und die Bereitstellung von Literatur (subito, eigene Dokumentlieferung, Fernleihe) für ihre Nutzergruppen erfüllt, wie auch die beiden anderen zentralen Fachbibliotheken und die Staatsbibliotheken.  

Ja, und Sie haben recht, wir sehen hier eine besondere Verantwortung, damit die Transformation gelingen kann.

Fangen wir mal mit dem an, was manchmal ein bisschen untergeht: die TIB übernimmt die Langzeitarchivierung der Inhalte der DEAL-Verträge - eine ganz eigene Herausforderung, aber hier möchte ich nur auf den Blog-Beitrag meines Kollegen hinweisen, dazu könnte man ein eigenes Interview führen. Wir und aber auch andere übernehmen die EZB-Pflege und unterstützen die Verhandlungen.

Wir haben uns an den DEAL-Verträgen mit unserem kompletten Subskriptionsumsatz beteiligt – wie auch die ZBW, die ZB MED und die Staatsbibliothek zu Berlin und damit sicherlich zum Erfolg beigetragen.

Mit der Umstellung auf das sogenannte Paper-Charge-Modell verringert sich sukzessive der Subskriptionsbeitrag, mittel- bis langfristig wäre er dann bei null.

Warum will die TIB sich aber nun weiterhin an den DEAL-Verträgen beteiligen und zwar mit erheblichen finanziellen Mitteln? Auch wenn das Wissenschaftsratspapier „Empfehlungen zur Transformation des wissenschaftlichen Publizierens zu Open Access“ nicht der Auslöser für unsere Entscheidung war uns auch weiterhin mit unserem Subskriptionsumsatz zu beteiligen, möchte ich es hier doch zitieren: „Der Wissenschaftsrat empfiehlt, in etwaige Ausgleichsmechanismen alle im Subskriptionsmodell beteiligten Einrichtungen und Finanzierer einzubeziehen, um eine möglichst kostenneutrale Transformation zu ermöglichen“.

Mit unserer Beteiligung möchten wir sowohl Hürden für eine Beteiligung kleinerer Einrichtungen mit sehr wenigen Publikationen abbauen, publikationsgroße Einrichtungen aber nicht vernachlässigen und in gleicher Weise Lesen und Publizieren fördern. Wir sollten nicht vergessen – auch wenn Deutschland Richtung Open Access marschiert, noch längst sind wir weltweit nicht da, dass alles Open Access verfügbar ist.

Wie schätzen Sie die Zukunft in Bezug auf die Open Access-Transformation insgesamt und DEAL im Besonderen ein?

Auch wenn der Vergleich vielleicht hinkt, möchte ich einen Kollegen der Leibniz-Gemeinschaft zitieren. Open Access kommt wie der Klimawandel. Aber wir dürfen die Open Access-Transformation nicht isoliert betrachten, sondern müssen das in den Kontext Open Science stellen, ganz im Sinne der Definition der Europäischen Kommission „… make scientific knowledge more easily accessible…“

Im Hinblick auf die DEAL-Verträge, aber auch andere Transformationsverträge – wir müssen den Schritt zur publikationsbasierten Abrechnung schaffen und auch ganz neue Modelle denken, heißt Richtung „Diamond Open Access“. Auch hier gibt das schon zitierte Wissenschaftsratspapier ja sehr gute Hinweise - es müssen aber alle mitmachen: von den Wissenschaftler*innen, über die Institutsleitungen, die Bibliothekar*innen, die Forschungsförderer bis hin zu den Verlagen, um nur einige zu nennen.                                            

Vielen Dank für Ihre Antworten, Frau Sens!