25. April 2022  Prof. Dr. Gerard Meijer ist Direktor am Fritz-Haber-Institut der Max-Planck-Gesellschaft und stellvertretender DEAL-Sprecher. Er war Vorsitzender einer Arbeitsgruppe des Wissenschaftsrats, welche die „Empfehlungen zur Transformation des wissenschaftlichen Publizierens zu Open Access“ erarbeitet hat.

 

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Herr Prof. Meijer, die Empfehlungen des Wissenschaftsrats beschreiben das wissenschaftliche Publizieren als Teil des Forschungsprozesses. Wie ist das genau zu verstehen und was bedeutet es ganz praktisch, z.B. im Kontext der DEAL-Verträge?

Die Verbreitung der Ergebnisse eines wissenschaftlichen Forschungsprojekts ist integraler Bestandteil des Projektes selbst. Wissenschaftler*innen müssen – und wollen – Forschungsergebnisse über die bestmögliche und geeignetste Form der wissenschaftlichen Kommunikation einer möglichst breiten Öffentlichkeit bekannt machen. Dies kann in Form von Vorträgen, Workshops oder Diskussionsrunden geschehen, vor allem aber erfolgt die wissenschaftliche Kommunikation durch Publikationen. Da die Verbreitung von Forschungsergebnissen Geld kostet, müssen diese Kosten auch wie Forschungskosten betrachtet und behandelt werden. Es liegt in der Verantwortung der Forschungsorganisationen und Geldgeber, die Kosten für die Veröffentlichung zu übernehmen, ebenso wie sie die sonstigen Kosten der Forschungsprojekte tragen. Dass die Kosten der wissenschaftlichen Kommunikation Teil der Forschungskosten sind, ist ein wichtiges Grundprinzip, das von allen an den DEAL-Verhandlungen beteiligten Parteien anerkannt werden muss.

Welche Verantwortung tragen aus Ihrer Sicht die unterschiedlichen Akteur*innen im wissenschaftlichen Publikationssystem, die Verlage, die Publizierenden, die Wissenschaftseinrichtungen, Forschungsförderer und schließlich die Bibliotheken für die Open Access-Transformation?

Die Rolle der Verlage wird wieder zu ihren Ursprüngen zurückkehren, d.h. sie sollten sich auf eine qualitativ hochwertige Veröffentlichung von Forschungsergebnissen und auf die Organisation eines unabhängigen, anspruchsvollen Peer-Review-Verfahrens konzentrieren. Die Verlage erhalten nicht mehr die exklusiven Rechte an den Artikeln, was Fachleuten zufolge "das Fundament ist, auf dem das akademischen Verlagsgeschäft aufbaut", und es wird erwartet, dass im Open Access-System ein Wettbewerb um die besten Artikel zwischen verschiedenen Verlagen stattfinden wird.

Für die Forscher*innen wird sich ihre Rolle als Verfasser*innen von wissenschaftlichen Artikeln oder als Gutachter*innen nicht ändern, obwohl sie bei der Wahl des Verlags kritischer sein sollten als in der Vergangenheit. Für Wissenschaftler*innen, die Herausgeber*innen von Open Access-Zeitschriften sind, ist es von entscheidender Bedeutung, völlig unabhängig zu sein: Die Qualitätskontrolle des wissenschaftlichen Inhalts liegt in der alleinigen Verantwortung der Herausgeber*innen, und diese sollte nicht zugunsten der Interessen des Verlags, der wahrscheinlich gerne mehr Quantität erhalten würde, beeinträchtigt werden. Herausgeber*innen sollten daher völlig unabhängige und kritische Begleiter des Verlags sein, für den sie arbeiten, und die wissenschaftliche Qualität der Zeitschriften sicherstellen.

Forschungsorganisationen und Forschungsförderer müssen den erforderlichen Betrag zur Deckung von Publikationskosten explizit im Rahmen der gesamten Forschungskosten bereitstellen; geschätzt haben Publikationskosten einen Anteil von etwa 1,5-2,0 % an den Gesamtforschungskosten.

Bibliothekar*innen spielen eine wichtige Rolle bei der Bereitstellung und Überwachung des Informationsbudgets (siehe nächste Frage) sowie bei der Beratung der Forscher*innen über die Möglichkeiten und Chancen von Open Access-Veröffentlichungen.

Der Wissenschaftsrat empfiehlt den Wissenschaftseinrichtungen integrierte Informationsbudgets einzurichten, die von den Bibliotheken verwaltet werden können und mit denen nicht nur die Ausgaben für Subskriptionen und die Beschaffung von Lesezugängen, sondern auch publikationsbezogene Gebühren wie APCs sowie Infrastrukturkosten gedeckt werden. Wie könnte eine solche Empfehlung Ihrer Meinung nach umgesetzt werden und wie könnte dies in der Praxis aussehen?

Um ein integriertes Informationsbudget einzurichten, muss die Leitung der Forschungseinrichtungen ihre Verantwortung wahrnehmen; möglicherweise ist eine Änderung der Organisationsstruktur erforderlich, um die Zuständigkeiten und Geldströme innerhalb ihrer Einrichtungen adäquat zu organisieren. Im Subskriptionssystems erhielten die Angehörigen einer Forschungseinrichtung Lesezugriff auf die vorhandene Literatur, während im Rahmen des Open Access-Systems allen Wissenschaftler*innen die Möglichkeit zur offenen Veröffentlichung ihrer Forschungsergebnisse gegeben werden muss. Für letzteres müssen Gelder, die derzeit im Bibliotheksbudget gebunden sind, aber auch Gelder, die integraler Bestandteil der Forschungsprojekte sind und die derzeit unter der Kontrolle der einzelnen Forscher*innen oder ihrer Abteilungen oder Fakultäten stehen, in einem gemeinsamen Informationsbudget zusammengeführt werden. Dies geht über das derzeitige Mandat und die Verantwortung der Bibliothekar*innen hinaus, und die Leitungen der Wissenschaftseinrichtungen werden dies organisieren müssen. Am wahrscheinlichsten ist es, dass das Informationsbudget unter die Verantwortung der Bibliothekar*innen gestellt wird, obwohl dies auch anders organisiert werden kann.

Was würden Sie Bibliotheken raten, die die Etablierung von integrierten Informationsbudgets an ihren Einrichtungen strategisch und praktisch vorantreiben möchten?

Die Empfehlungen des Wissenschaftsrates zur Transformation des wissenschaftlichen Publizierens zu Open Access werden wahrscheinlich eher von Bibliothekar*innen gelesen als von der Leitung der wissenschaftlichen Einrichtungen. Es ist daher die erste Aufgabe der Bibliothekar*innen, ihre Vorgesetzten darauf hinzuweisen, dass es sich bei diesen Empfehlungen um eine Koordinationsaufgabe für die Einrichtungsleitung handelt, die über das hinausgeht, was Bibliotheken allein leisten können. Darüber hinaus ist es wichtig, dass die Bibliotheken immer wieder auf die Vorteile der Open Access-Veröffentlichung hinweisen, sowohl gegenüber der Hochschulleitung als auch gegenüber allen Forscher*innen: Open Access-Artikel werden häufiger heruntergeladen und zitiert und führen zu mehr Anwendungen und Austausch. Bibliothekar*innen sollten auch auf die erwartbare strategische Bedeutung des Informationsbudgets hinweisen: Das Gesamtvolumen des Informationsbudgets einer Einrichtung wird in Zukunft voraussichtlich zu einem echten Standortvorteil werden – auch um neues wissenschaftliches Personal anzuziehen –, da es ein Maß für die wissenschaftliche Produktivität dieser Einrichtung ist.

Auch transformative Verträge wie die DEAL-Vereinbarungen verbinden, ähnlich wie die integrierten Informationsbudgets, die Finanzierung des Open Access-Publizierens mit den Kosten für den Zugang zu Inhalten. Wie werden sich transformative Vereinbarungen Ihrer Meinung nach entwickeln?

Die derzeitigen Vereinbarungen werden nicht nur als "transformativ" bezeichnet, sondern sollten auch transformativ sein; sie sollten dazu führen, dass immer mehr Zeitschriften geflippt werden, und die künftigen Verträge sollten echte Pay-to-Publish-Vereinbarungen sein, bei denen das Lesen für alle kostenlos ist. Gleichzeitig sollten sie auch "transformativ" für akademische Einrichtungen sein. Viele wissenschaftliche Einrichtungen in Deutschland verfügen jedoch noch nicht über ein zentrales Informationsbudget. Obwohl die Verlage im Rahmen der DEAL-Verträge nach Anzahl der Veröffentlichungen von deutschen Autor*innen bezahlt werden, berechnen sich die Kosten der Vertragsteilnahme für die wissenschaftlichen Einrichtungen in Deutschland noch nicht nach der Anzahl ihrer Publikationen, sondern nach ihren historischen Subskriptionsausgaben bei den Verlagen. Erst wenn alle Einrichtungen einen Überblick über ihre tatsächlichen kombinierten Subskriptions- und Publikationskosten haben und die Mittel dafür in zentralen Informationsbudgets zusammengeführt werden, können die Zahlungsmodalitäten innerhalb Deutschlands an die MPDL Services gGmbH (der Vertragspartner der Verlage für ganz Deutschland) die gleichen sein wie die von der MPDL Services gGmbH an die Verlage.